Orte des Erinnerns sind Orte des Gedenkens. – Am 7.6.2005 denken wir dankbar an Pfarrer Emil Martin. Vor 60 Jahren hat er 14 Kusterdinger Männern durch seine selbstlose, mutige Tat das Leben gerettet. Zeitzeugen haben heute noch unauslöschlich das Bild vor Augen, wie sich Pfarrer Martin auf dem Rathausplatz vor dem französischen Offizier auf die Knie warf und mit eindringlichen Bitten in französischer Sprache flehte, diese unschuldigen Männer zu verschonen. Bange Minuten, einer Ewigkeit gleich, verstrichen, die angelaufene Exekution wurde abgebrochen, eine Untersuchung eingeleitet. – Was war geschehen?Am 19.4.1945 nahmen die Franzosen gegen 5:00 Uhr morgens Tübingen ein. In Kusterdingen wurde schon am 18.4. abends der Volkssturm aufgelöst und dank Bürgermeister Polster die kampflose Übergabe des Ortes beschlossen. Am 19.4. besetzten gegen 16:00 Uhr mehrere Panzer Kusterdingen und beschossen von hier aus zwei Stunden lang Kirchentellinsfurt.
In Kusterdingen blieb alles ruhig. Waffen, Munition, Radios und Fotoapparate mussten bis 19:30 Uhr abgegeben werden. Die ausländischen Zwangsarbeiter wurden in den folgenden Tagen in die Sammellager nach Tübingen gefahren. Anfang Mai unternahmen dann mehr als drei Wochen lang immer wieder Gruppen ehemaliger Zwangsarbeiter “Vergeltungsausflüge” auf die Härten. So wurde auch Kusterdingen wochenlang geplündert, bis man einen Selbstschutz organisierte. Am 7.6.1945 kamen vormittags wiederum einige Polen in den Ort, um unter dem Vorwand, einen Zentner Hafer kaufen zu wollen, die Bauern auszuplündern. Es kam zu einer Rangelei. Die Polen holten Verstärkung. Nachmittags erschienen 30 Polen, es kam zu einer Massenschlägerei, bei der acht Kusterdinger und acht Polen verletzt wurden; zu Tode kam niemand. Die Polen verbreiteten in Tübingen das Gerücht, in Kusterdingen seien fünf Polen getötet worden, zweien habe man sogar mit einer Sense die Köpfe abgeschnitten. Gegen 19:30 Uhr fuhr eine Abteilung französischer Soldaten in den Ort, geführt von einem polnischen Legionär, um den vermeintlichen Tod ihrer Landsleute zu rächen.
Pfarrer Martin schilderte in seinem 1951 verfassten Bericht den Fortgang der Ereignisse: “Die Soldaten schössen, hauptsächlich vom Rathausplatz aus, planlos in alle Richtungen. Ein vom Friedhof mit einer Gießkanne heimkehrender Bürger, Georg Zeeb, sank nieder, von 5 Kugeln durchbohrt. Bürger, die vom Arbeitsplatz zurückkehrten und auf der Straße weilten, wurden verhaftet und in ein bereitstehendes Personenauto verbracht, später ließ man sie aussteigen, in Reih und Glied antreten und traf Anstalten, sie zur Sühne für die angeblich erschlagenen Polen zu erschießen, nach dem Vorbild der deutschen SS, die bei Zwischenfällen kurzerhand einige “umzulegen” pflegten. Der Pfarrer, einem inneren Drange folgend, begab sich, das lila Band am Arm, auf den Rathausplatz, um nachzusehen, was der Grund der wilden Schießerei war, und eventuell zu vermitteln. Aber es war unmöglich, mit diesen rasenden Menschen, die danach dürsteten, sich einmal an den verhassten Deutschen rächen zu können, ein vernünftiges Wort zu reden. Im letzten Augenblick noch durfte es dem Pfarrer, auf ein stilles Gebet hin, gelingen, durch einen eindringlichen, in französischer Sprache an die Soldaten gerichteten Gewissensappell die Erschießung von 14 Menschen zu verhindern. Sieben wurden als Geiseln nach Tübingen mitgenommen und nach acht Tagen wieder entlassen. In nachfolgenden Verhandlungen, die vom Bürgermeister geschickt geführt wurden, erkannte der französische Gerichtsoffizier in dankenswerter Objektivität unsere Notwehr gegen die ausländischen Plünderer an und dem Orte wurde zum Schutz eine Abteilung von 25 Algeriern gewährt, mit denen die Bevölkerung in guter Freundschaft lebte.” Pfarrer Martin hat ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben gehandelt. Ohne seine mutige Tat wären 14 unschuldige Kusterdinger Bürger vor 60 Jahren erschossen worden. Deshalb hat Heinz Wolpert am 8.5.1965 im Gemeinderat den Antrag gestellt, einen Platz in Kusterdingen nach Emil Martin zu benennen. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung wurde damals von Landrat Oskar Klumpp, Bürgermeister Gerhard Kindler und Pfarrer Adolf Klein die Gedenktafel am Alten Rathaus enthüllt und die Platzwidmung als Ort des Erinnerns vorgenommen.
Es ist wichtig, sich immer wieder an Pfarrer Emil Martin und seine selbstlose Tat mit großer Dankbarkeit zu erinnern. Denn die Erinnerung ist eine unserer stärksten Fähigkeiten, da sie uns hilft, Wege zu verstehen, die aus der Vergangenheit kommen und in die Zukunft weiterführen. Nur wer sich mit Dankbarkeit erinnert, kann seiner Zukunft vertrauen.
Prof. Dr. Herbert Raisch